Sopranistin Rachel Harnisch

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CD Review

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NZZ-Kritiker Peter Hagmann rezensiert die neuen CD's des Berner Symphonieorchesters mit Mario Venzago und Rachel Harnisch.

Das Berner Symphonieorchester und sein Chefdirigent Mario Venzago haben Oberwasser.
Wenn es irgendwo in der Schweiz ein glückliches Orchester gibt, dann ist es wohl das Berner Symphonieorchester. Mit Mario Venzago hat es seit 2010 einen Chefdirigenten und künstlerischen Leiter, der sich voll mit seiner Aufgabe identifiziert und im Orchester hohe Motivation erzeugt – dass hier eine spezifische Übereinstimmung herrscht, ist nach wenigen Augenblicken zu hören. Nicht zuletzt ist das auf Bewegung im Strukturellen zurückzuführen.
Das Orchester ist verjüngt worden, rund ein Viertel seiner Mitglieder sind neu dazugestossen. Und die Besonderheit besteht hier darin, dass, wie Venzago erläutert, eine gute Zahl an Teilzeitstellen geschaffen wurden, damit auch Musikerinnen und Musiker mit Familie und solche mit anderweitigen Interessen, etwa im Bereich der Kammermusik, mit von der Partie sein können; heute, so Venzago, verteilen sich 90 Planstellen auf zirka 120 Orchestermitglieder. Neu ist auch eine aus dem Kreis des Orchesters gebildete Tanzkapelle im Geist der 1920er Jahre; die Suche nach Notenmaterial für diese Formation soll geradezu kriminalistische Fähigkeiten erfordert haben.

Ganz selbstverständlich gehört in Bern die Moderne dazu – die Moderne in der ganzen Breite des Begriffs. In vielen Konzerten dieser Saison werden Werke von Schweizer Komponisten gespielt, so zum Beispiel «Beati pauperes II» von Klaus Huber zum 90. Geburtstag des Komponisten, die Uraufführung von Olivier Darbellays Stück «Verzerrte» – oder jetzt, im jüngsten Konzert, «Boost» von Dieter Ammann. Gerade dieses Werk zeigte, wie Musik heutig und eingängig zugleich sein kann. «Boost» lebt von Kontrasten zwischen einem reich bestückten Schlagwerk und dem farbig klingenden Orchester – wobei das Perkussive des Schlagzeugs in Form des mit einem heftigen Saitenaufschlag verbundenen «Bartók-Pizzicatos» in die Streicher wandert, während sich das Singen des Orchesters zu den von ferne kommenden Klängen der Herdenglocken hin verlängert. Bewundernswert, wie Venzago und das Orchester da in Fahrt kamen und wie sie die steilen Eruptionen immer wieder durch Inseln ruhig liegender Klänge unterbrachen. Die Moderne in der ganzen Breite des Begriffs – das umschliesst auch suchende Komponisten wie Othmar Schoeck, der Venzago seit langem am Herzen liegt. Dieser Tage wird eine CD des Berner Symphonieorchesters mit Musik von Schoeck erscheinen; mit von der Partie ist da die Sopranistin Rachel Harnisch. Eine weitere Aufnahme wird vom deutschen Label CPO herausgegeben werden. Sie enthält Werke des in Russland geborenen, lange Jahre in Berlin wirksamen und schliesslich in der Romandie lebenden Schweizers Paul Juon (1872–1940), der heute bestenfalls noch dem Namen nach bekannt ist.

Im Foyer des Kultur-Casinos Bern gab eine informative Ausstellung in Form von Plakaten Einblick in Leben und Schaffen des Komponisten. Und den Abschluss im jüngsten Konzert des Berner Orchesters bildete die Sinfonie Nr. 2 in A-Dur aus dem Jahre 1903 – ein eigenartig sperriges, zugleich aber anziehendes Stück, das Brahms mit Tschaikowsky vermählt und das im Harmonischen wie im Rhythmischen sorgsam nach Neuland sucht. Es hebt, seltsam genug, mit einem Variationensatz an, einer Passacaglia nämlich, die, wie es sich gehört, in eine technisch hochstehende Fuge mündet. Nach einem Scherzo, das den Dreivierteltakt witzig durcheinanderbringt, folgt eine Romanze, in der sich die klanglichen Qualitäten des Berner Symphonieorchesters in hellstem Licht zeigten. Leicht und farbenreich ist dieser Klang, weshalb keine Spur von Kitsch aufkam. Und raffiniert wird, auf den Spuren der historisch informierten Aufführungspraxis, mit dem Non-Legato gearbeitet, was zu überaus aparten Mischungen führte.

Ammann zum einen, Juon zum anderen – und dazwischen das erste Violinkonzert von Sergei Prokofjew, das im Revolutionsjahr 1917 abgeschlossen wurde, aber einen ganz und gar frühlingshaften, geradezu idyllischen Ton pflegt. Mit ihrem zurückhaltenden, doch gleichermassen tragfähigen Klang war die junge Geigerin Veronika Eberle genau richtig am Platz. Sie liess die Kantabilität dieses wohlklingenden Konzerts prachtvoll zur Geltung kommen. Und zusammen mit Mario Venzago liess das Berner Symphonieorchester hören, welcher Reichtum im Leisen herrschen, wie da das Rhythmische zu Prägnanz finden und wie Spannung entstehen kann. Sehr direkt konnte sich der Zuhörer dieses phantasievoll gestalteten Abends angesprochen fühlen. Danach herrschte gute Laune.