Sopranistin Rachel Harnisch

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CD Review

Jürgen Kersting: Unveräusserliches Erbe

Musikkritiker Jürgen Kersting rezensiert die neue CD mit Paul Hindemith's Marienleben von Rachel Harnisch und Jan Philip Schulze.

Die gesangliche Ausführung lässt keine Wünsche offen. Harnischs Stimme, ein expansiver lyrischer Sopran, hat klangliche Substanz in der tiefen Lage und Leuchtkraft in der farblich reich changierenden Höhe . Exzellent das Legato: Sie bettet die Worte, sorgsam artikulierend, in den dynamisch musterhaft ausgestuften Klang. In Jan Philip Schulze hat sie einen vortrefflichen Partner. Das Klangbild ist,für meinen Geschmack, eine Spur zu hallig. Die Lieder werden dadurch in eine Art von Sfumato getaucht, also eher weich gezeichnet. Die Texte müssen, wie bei Naxos üblich, im Internet abgerufen werden.

Das war nicht leicht zu machen», notierte Paul Hindemith in seinem Werkverzeichnis über die Arbeit an der Erstfassung von «Das Marienleben» auf Gedichte von Rainer Maria Rilke (1922/23). Zugleich war er stolz auf «das Beste», was er je gemacht hatte. Der gleichen Ansicht war Glenn Gould, der vom «größten je komponierten Liederzyklus» sprach, den der Komponist allerdings in den folgenden Jahrzehnten immer wieder bearbeitete, um den Zuhörer, wie er schrieb, aus der «etwas beschämenden Rolle des bloßen Musikkonsumenten» herausholen und in die des «Mitfühlenden,des Verstehenden zu erheben». Damit verbarg (oder exkulpierte?) er den Wandel seines Blicks aufRilkes Dichtung, die ihrerseits von den Mariendarstellungen Tizians, Tintorettos, EI Grecos, Poussains und anderen angeregt war. Dem streng katholisch erzogenen Rilke bedeutete Maria, wie es in der Rilke-Literatur heißt, ein «unveräußerliches Erbe»: eine irdische Frau, die Schmerzen und Freuden erfährt.

Hingegen verstand der junge Hindemith den Zyklus wohl als «eine der sublimsten Parodien Rilkes auf Figuren der christlichen Heilsgeschichte», deren Anspielungen und Zweideutigkeiten er provokationsfreudigauskostete. All diese lnnuendi milderte er in den folgenden 25 Jahren behutsam ab. Der ebenfalls provokationsfreudige Glenn Gould mokierte sich, unter Berufung auf Arnold Schönberg, über den «antiquierten New Look» der zweiten Fassung (faszinierend dazu das So Seiten lange Kapitel von Siglind Bruhn in ihrer Studie «Die Vokalmusik Hinderniths»).

Wie fesselnd und sinnvoll wäre es gewesen, wenn die aus dem Schweizer Wallis stammende Rache! Harnisch, die unter Claudio Abbado das «Stabat Mater» von Pergolesi und die Marzelline in «Fidelio» aufgenommen hat, beide Fassungen hätte aufnehmen können wie Judith Kellock - und nicht nur die leichter zugängliche zweite, die in Aufnahmen von Erna Berger, Gundula fanowitz, Soile lsokoski, Ruth Ziesak und anderen vorliegt. Der von Hindemith in seinem Vorwort beschriebenen Gefahr, dass die Sängerin der stärkeren Emotionalität der Zweitfassung erliegen könnte, weiß sich Rache! Harnisch klug zu entziehen. Ihre Darstellung zeichnet sich durch subtile Differenzierungen der Emotionalität aus, etwa wenn im dritten Lied («Mariae Verkündigung») von der Intensität beider Blicke (Marias und des Engels) berichtet wird: « ... nur sie und er; Schauen und Geschautes, Aug und Augenweide, sonst nirgends an dieser Stelle». Im siebten Lied - «Geburt Christi» - findet sie den Ton der Demut und der Erhabenheit; im neunten - «Von der Hochzeit zu Kana» - den des leicht eitlen Stolzes Marias ob der Wunder, die ihr Sohn Jesus zu wirken vermag. Erschütternd, wenn sie im zehnten Lied - «Vor der Passion» - verzweifelt aufschreit über den Sohn, der als Retter der Menschheit auftritt, aber kein Mitgefühl für die Mutter aufbringt; und herzbewegend, wenn sie nach dem das elfte Lied eröffnenden Qual-Akkord singt: «JETZTwird mein Elend voll»

Jürgen Kesting