Sopranistin Rachel Harnisch

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Konzert Review

Liederabend-Sternstunde in Essen

Mitunter reagiert das Publikum verdrossen, wenn ein hoch geschätzter Interpret absagt und kurzfristig Ersatz her muss. Dabei versprechen unverhoffte Auftritte nicht selten die schönsten Überraschungen. Manche Karriere erfuhr durch beherztes Einspringen die nötige Schubkraft. Die aus dem Wallis stammende Schweizer Sopranistin Rachel Harnisch hat eine solche Initialzündung mit 43 längst nicht mehr nötig.
Sie zählt zu den Opernsängerinnen, die man an der Mailänder Scala, der Wiener Staatsoper, am Opernhaus Zürich, der Deutschen Oper Berlin und der Münchner Staatsoper schätzt. In Essen ist sie bereits unter Stefan Soltesz aufgetreten. Und dennoch umgibt sie der Nimbus des Geheimtipps, weil sie sich nicht vom kommerziellen Musikbetrieb vereinnahmen lässt. In der Essener Philharmonie sprang sie mit einem Liederabend so kurzfristig für die erkrankte Annette Dasch ein, dass nicht mal Zeit blieb, über Nacht ein neues Programmheft zu drucken. Statt eines Epochenporträts des morbiden Wien vor und nach dem Untergang der Donaumonarchie stand nun, nicht minder spannend, der lange Weg vom romantischen Lied zur Liedkunst der frühen Moderne auf dem Programm.

Rachel Harnisch widmet sich der intimen Kunst des Liedes mit solcher Verve wie dem Konzertauftritt und der Oper. Wohl wissend, dass der Liedgesang wie ein Lackmustest Qualitäten und Schwächen einer Stimme offenbart. An klug dosierter Wärme trotz  unterkühlter souveräner Distanz, an klar fokussierter Präzision noch in der höchsten Lage, satter Fülle, funkelnder Farbenpracht, ungekünstelt inniger Lyrik und jugendlich-dramatischem Ausdruck macht dieser Sängerin niemand etwas vor.

Sie durchglüht die Wechselbäder der Gefühle in Schuberts „Zwerg“. Schuberts „Geistertanz“ gerät bei ihrer zu einer hochdramatisch ausgeleuchteten kleinen Szene. Ebenso wenig bleibt sie der neckischen Komik im vierstrophigen Refrainlied „Die Unterscheidung“ oder der Erlösungssehnsucht der „Jungen Nonne“ schuldig. Bei Rachel Harnisch wird auch deutlich, welche Verfeinerung Alban Berg in der expressiven Verdichtung seiner „Sieben frühen Lieder“ der romantischen deutschen Kunstlied-Tradition entlehnt.

Und dann erst der liedhaft schlichte Tonfall in Gustav Mahlers „Rheinlegendchen“ im Kontrast zu den Wechselbädern rauschhaften Überschwang und melancholischen Innehaltens in vier der fünf Rückert-Lieder Mahlers, die Nähe der „Rosenkavalier“-Welt bei Richard Strauss im „Rosenband“ und der funkelnde Zauber letzten Erglühens, frei von jeder Effekthascherei, im Eichendorffschen „Abendrot“ aus den „Vier letzten Liedern“. Beim kundigen Publikum triumphierte die barfuß auftretende, von Jan Philip Schulze am Flügel exzellent begleitete Sängerin mit prächtiger Ausdrucksfülle.  
Bernd Aulich