Sopranistin Rachel Harnisch

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«Das Marienleben» mit Rachel Harnisch und Jan Philip Schulze

Hindemith – neu entdeckt

Von Peter Hagmann

Ganz so heilig ist es vielleicht doch nicht zugegangen. Im Gedichtzyklus «Das Marien-Leben» von Rainer Maria Rilke erscheint der jungen Frau zwar ein Engel, aber die Blicke, die in diesem Augenblick zwischen den beiden hin- und hergehen, sagen mehr, als die kirchliche Überlieferung nahelegt. Kein Wunder, begehrt der Zimmermann Joseph angesichts der offenkundigen Konsequenzen auf – so sehr, dass es einer energischen Intervention des Engels bedarf. In der Folge zieht das Leben Jesu in dichter Raffung vorbei. Wie Maria nach der Kreuzigung den Leichnam ihres Sohnes an sich nimmt, breitet sich eine Zärtlichkeit aus, die auf das nächste Gedicht verweist; es schildert, wie der Auferstandene seiner Mutter begegnet: in einer Verbundenheit, deren Innigkeit der körperlichen Berührung nicht mehr bedarf.
Und ganz so spröde, wie es das Vorurteil will, klingt es hier auch nicht. Die Musik, die Paul Hindemith für den Gedichtzyklus Rilkes erfunden hat, atmet ihre ganz eigene Sinnlichkeit. Gewiss, die vokale Linienführung ist anspruchsvoll, und der Klavierpart bietet nicht Begleitung herkömmlicher Art, er verkörpert klare formale Prinzipien – zumal in der zweiten Version der Vertonung, die Hindemith 1948, ein Vierteljahrhundert nach einer erste Niederschrift des Liederzyklus, abgeschlossen hat. Ostinate Verläufe, wie sie die Passacaglia ausprägt, stellen sich hier zur Singstimme, Themen mit Variationen und oft auch einstimmige Passagen. So kommt es zu einem Austausch zwischen dem Gesungenen und dem Gespielten, wie er in dieser Intensität einzigartig ist.
Genau darauf setzen die Schweizer Sopranistin Rachel Harnisch und der deutsche Pianist Jan Philip Schulze in ihrer bei Naxos erschienenen Aufnahme von Hindemiths «Marienleben» in der Fassung von 1948. Ihr Zusammenwirken ist denkbar weit entfernt von der Vorstellung einer solistisch geführten Singstimme und eines untermalenden Klaviers. Jan Philip Schulze, ein auf dem Feld des Kunstlieds höchst erfahrener Musiker, gestaltet den Klavierpart geschmeidig und klangschön, vor allem aber stellt er ihn selbstbewusst in den Raum, das erschliesst sich dem Hören bei der ersten Begegnung.
Er kann das tun, weil Rachel Harnisch das Konzept der musikalischen Partnerschaft ihrerseits so lebhaft wahrnimmt. Die reifer gewordene Stimme der Sopranistin, die eben erst in Berlin in der Uraufführung von Aribert Reimanns jüngster Oper «L’Invisible» brillierte, verströmt so viel Wärme und Fülle, dass sie neben den pointierten Beiträge des Pianisten problemlos zu bestehen vermag – ja mehr noch: dass sie die eigenartige Sinnlichkeit der Komposition voll zur Geltung bringt. Die Sängerin gestaltet eben, und sie tut das mit eindringlicher Emphase, hörbar aus den wunderbaren Texten Rilkes heraus, mit vorzüglicher Diktion, aber auch mit so bestechender Sorgfalt der vokalen Ausformung, dass die Balance im Duo jederzeit gegeben ist. Von fröhlichen Weihnachten wird da berichtet und von einem zum Täufer ausersehenen Johannes, der schon im Bauch seiner Mutter strampelnd seiner Vorfreude Ausdruck gibt. Und zu entdecken ist in dieser Aufnahme ein unverkennbarer, aber in gewisser Weise neuer Hindemith.

Paul Hindemith: Das Marienleben (Fassung von 1948). Rachel Harnisch (Sopran), Jan Philip Schulze (Klavier). Naxos 8.573423 (1 CD).

Peter Hagmann