Sopranistin Rachel Harnisch

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Interview

NZZ Rachel Harnisch - eine entdeckungsfreudige Künstlerin

Zum Singen berufen - Neue Aufnahmen der Sopranistin Rachel Harnisch unterstreichen die Entdeckerfreude der Schweizer Künstlerin

Für ein Konzert der Hochschule habe ihre Professorin ihr die mittleren fünf Lieder des Zyklus zugeteilt, und es sei diese Musik gewesen, die ihr geholfen habe, ihre Selbstzweifel zu überwinden, denn hier habe sie gespürt, dass sie zum Singen berufen sei. Die technischen Anforderungen des Zyklus hätten ihr keine allzu grosse Angst gemacht, vielmehr habe sie sich mit dem komplexen Kompositionsstil völlig identifizieren können. «Es war, als käme diese Musik aus mir.» Als dann während der Aufführung im historischen Freiburger Kaufhaussaal durch ein Fenster auch noch ein Sonnenstrahl direkt auf sie gefallen sei, habe sie das wie einen Wink des Schicksals empfunden.

Intellekt und Emotion

Allerdings hatte dieses «Erweckungserlebnis» eine Vorgeschichte. Da war zum einen die Beziehung zu Rilke, dessen Werk ihr seit der Schulzeit in Brig vertraut war mit der Klasse hätten sie sein Grab im nahen Raron besucht und seine Gedichte gelesen. In Hindemiths neoklassizistischer Tonsprache fand sie nun Rilkes Gedichte so in Musik gesetzt, «wie es sein muss». Hinzu kam ihre Herkunft aus einem sehr katholischen Milieu, in dem die Kenntnis des biblischen Geschehens selbstverständlich war. Ebendies hat sie sensibilisiert für das andere, vermenschlichte Marienbild, das Rilke zeichnet: Maria als auch sinnlich und körperlich empfindende Frau und Mutter, auserwählt zum Leiden.

Nach Aufführungen in Lausanne, Antwerpen und am LucerneFestival hat Harnisch den 15-teiligen Zyklus nun mit dem Pianisten Jan Philip Schulze auf CD aufgenommen. Dass sie sich nicht für die Erstfassung von 1922/23, sondern für die Version von 1948 entschieden haben, begründet sie mit der dieser Fassung eigenen engeren Verbindung von Text und Musik. «Mein Interesse gilt stets zuerst dem Text, danach kommt die gesangstechnische Bewältigung der Vertonung, erst dann lasse ich das Werk auch emotional auf mich wirken.» Diese Synthese von intellektueller Durchdringung und emotionaler Gestaltung macht die Aufnahme des «Marienlebens» zum Ereignis. Harnischs Sopran, makellos, schwebend leicht, ohne Druck in höchste Regionen steigend, dabei durchaus körperhaft, verleiht der erzählenden Stimme mit kunstvoller Schlichtheit in feinsten Farbschattierungen Ausdruck und bewegt sich traumwandlerisch sicher auf dem schmalen Grat zwischen Empathie und Distanz gegenüber dem Geschehen. Eine perfekte Diktion ist angesichts von Harnischs Sprachbewusstsein selbstverständlich gleichwohl bedeutet das Fehlen des Rilke-Textes im CD-Booklet ein gravierendes Manko. Darüber hinaus setzt sie aber durch die Art, wie sie die Sprachmelodie nachzeichnet, einzelne Worte betont und stimmungshaft einfärbt, sinnstiftende Akzente. Der Klavierpart, der die Sing stimme raffiniert umspielt und untermalt, erhält durch Jan Philip Schulze reliefartige Kontur. Die zwei letzten Gedichte des Zyklus zeigen Maria im Himmel. Dort ist auch der vierte Satz von Gustav Mahlers 4. Sinfonie angesiedelt mit dem Sopransolo auf einen Text aus «Des Knaben Wunderhorn». Doch nun werden die «himmlischen Freuden» aus kindlicher Perspektive besungen: Lustig geht es hier zu und her, es wird getanzt und geschmaust. Auch dafür hat Harnischs Sopran die richtigen Farben bereit: blühende, samtene, prickelnde.

Himmlische Freuden

Sie hat dieses Solo schon oft gesungen, doch bei der vorliegenden Aufnahme handelt es sich laut Booklet um eine Ersteinspielung, denn ihr liegt die Kammerorchester Fassung von Klaus Simon zugrunde. Das Mythen Ensemble Orchestral spielt sie unter der Leitung von Graziella Contratto mit dezidiertem Zugriff, wobei die Soloinstrumente brillant hervortreten. Ergänzt wird die CD mit fünf von Contratto instrumentierten Liedern, die der Pianist Artur Schnabel um 1900 für die Mezzosopranistin Therese Behr, seine spätere Frau, komponiert hat. Harnisch erweist sich auch in diesen illustrativen Werken als sensible Textinterpretin. Ganz auf der Höhe ihrer Kunst steht sie in einer repräsentativen Schoeck-Aufnahme, auf der sich ihre lyrische Stimme in der Mörike-Vertonung «Besuch in Urach» zu dramatischer Emphase aufschwingt. In dieser spätromantischen Klangwelt, sagt sie, fühle sie sich zu Hause; diese Sehnsucht nach Heimat, Jugend und Geborgenheit könne sie nachempfinden so müsse Musik sein, damit sie sich ganz mit ihr eins fühlen könne.

MARIANNE ZELGER-VOGT

Aufnahmen von Rachel Harnisch: Hindemith: Das Marienleben. Jan Philip Schulze (Klavier). Naxos 8.573 423 (1 CD). Mahler: Sinfonie Nr. 4; Schnabel: Lieder. Mythen Ensemble Orchestral, Graziella Contratto (Leitung). Claves 50-1709 (1 CD).Schoeck: «Sommernacht», Sonate für Bassklarinette und Orchester, «Penthesilea»-Suite, «Besuch in Urach». Bernhard Röthlisberger (Bassklarinette), Berner Symphonieorchester, Maria Venzago (Leitung). Musiques Suisses MGB 6281 (1 CD).